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Max Beckmann: Blickwechsel – Wortwechsel, Teil 4

Um der Verbreitung des Corona-Virus entgegenzuwirken, musste die Hamburger Kunsthalle auch im Dezember 2020 geschlossen bleiben. In der Veranstaltungsreihe „Blickwechsel“ hätten Expertinnen und Experten aus verschiedenen Fachbereichen ihren Arbeitsplatz temporär in die Ausstellung „Max Beckmann. weiblich-männlich“ verlegen sollen. Aus diesem „Blickwechsel“ sind mit der Schließung der Kunsthalle nun schriftlich geführte „Wortwechsel“ geworden. Im vierten Teil wagt die Filmemacherin Nathalie David ein Experiment: Ihre Antwort auf die Fragen von Sophia Colditz (wissenschaftliche Mitarbeiterin) ist ein Drehbuch für einen Kurzfilm.

SC: Liebe Nathalie David, Sie haben aus den Werken in der Ausstellung „Max Beckmann. weiblich-männlich“ ein zentrales Gemälde des Künstlers für unseren Dialog ausgewählt, das den Besuchern der Hamburger Kunsthalle vertraut ist: „Odysseus und Kalypso“. Wie erleben Sie als Künstlerin und Filmemacherin das Bild, sehen Sie es durch die Linse einer Kamera?

ND: Vielen Dank, dass Sie mich dazu eingeladen haben. Ich habe überlegt, wie ich mit meinen Tätigkeiten in diesem „Blickwechsel/Wortwechsel“ mitwirken kann und bin auf die Idee gekommen, ein Mini-Drehbuch zu schreiben, sodass man sich einen Kurzfilm vorstellten kann, wenn man es liest:

VORSPANN

Musik: Swing Jazz aus den 1930/40er-Jahren als Hommage an Beckmanns „Selbstbildnis mit Saxophon“ (1930) 

Karte/Titel: Grüne Schrift auf Schwarz – wie das Grün im Bild in der rechten oberen Ecke hinter der Katze:

 

SCHNITT

1 – Totale Interieur Hamburger Kunsthalle, Lichtwark-Galerie. Die Musik wird leiser. Man hört den dezenten Klang sich nähernder Frauenschritte. Die Musik wird ausgeblendet. Wir sehen das Beckmann-Gemälde.

Eine junge Frau kommt von der linken Seite ins Bild und positioniert sich zwischen dem Kakadu und dem rechten Bein von Odysseus. Sie zeigt uns ihren Rücken. Sie trägt einen geraden Mantel mit schwarzem Saum und dazu einen Cloche-Hut, beide aus derselben Schurwolle in Chromgelb. Die Farbe erinnert an das Chromgelb des Kakaduschnabels, von Odysseus Bart, Kalypsos Fingernägeln und der Schnauze der Katze. Aus dem Hut fallen ihre schwarzen Haare auf den Rücken und zeichnen dort ein schwarzes Quadrat. Die schwarze Farbe erinnert an Kalypsos Haare, genau wie der Saum des Mantels an die schwarzen Konturen erinnert, die ein Markenzeichen von Beckmanns Malerei sind.

Die junge Frau trägt beige-rosafarbene wollene Strümpfe in der Farbe von Kalypsos Körper und elegante braune Schuhe mit flachem Absatz. Sie schaut das Bild an.

 

SCHNITT

2 – Nahaufnahme

Die Kamera schwenkt langsam von links nach rechts, leicht nach oben, von Odysseus’ rechtem Auge weiter über Kalypsos Auge bis zum Auge der Katze, fährt zurück nach links in der Diagonale bis zum Kakadu und von dort gerade nach unten zu den Knöcheln von Odysseus und Kalypso. Wir hören die junge Frau stöhnend überlegen.

 

SCHNITT

Die Kamerabewegung folgt ihrer Stimme und ihrem Atem.

Sie flüstert: – ER SIE SIE ER

und atmet aus. Sie wendet ihren Kopf von Odysseus zu Kalypso. Atmet ein. Von Kalypso zur Katze. Von der Katze zum Vogel. Man spürt die Interaktion zwischen dem Bild und der jungen Frau.

 

SCHNITT

3 – Großaufnahme

Sie nimmt die Position von Odysseus ein, Hände hinter dem Nacken. Die Füße breit aufgestellt. Sie murmelt vor sich hin.

Sie sagt: (tiefe Stimme) ER, passiv. Er blickt in die Ferne. Der Vogel an seiner Seite.

 

SCHNITT

4 – Nahaufnahme von der rechten Hand der jungen Frau, die sich bewegt wie das Flattern eines Vogelflügels. Die Kamera folgt der Hand, die sich vor dem Bild hebt. Man sieht kurz das Blau des Schildes hinter Odysseus’ Kopf. Man sieht die Finger der Frau vor dem Bild. Sie zählt mit den Fingern ihrer linken Hand etwas ab. Man sieht ihre beiden Hände in spielerischer Interaktion. Dann imitieren sie die Geste von Kalypso, eine Hand auf dem Herzen, die andere ihn haltend, damit er für ewig bleibt. Eine dritte Hand nimmt die beiden Hände und sie verschwinden schnell aus dem Bildausschnitt nach links. Die dritte Hand, leicht dunkelhäutig, trägt ein chromgelbes Freundschaftsbändchen aus Baumwolle.

 

SCHNITT

5 – Großaufnahme von dem blauen Schild oben links mit dem Schwert.

Der blaue Schild erinnert an eine Uhr. Das Schwert an die Uhrzeiger.

Ton: Man hört das Ticken einer Uhr.

Sie sagt: ER will wegfliegen, heimkehren nach Ithaka zu seiner Frau Penelope und seinem Sohn Telemachos. Seit sieben Jahren hält ihn Kalypso bei sich fest und nur mit Hilfe von Zeus kann er sich befreien.

Sie flüstert: eins zwei drei vier fünf sechs sieben eins zwei drei vier fünf sechs sieben

Ton: Das Ticken der Uhr hört auf.

 

SCHNITT

6 – Nahaufnahme von Kalypsos Gesicht, Schmuck, Körper, Knöchel.

Eine andere Frauenstimme sagt im Off, während die erste weiter die Ziffern flüstert:

– SIE, aktiv, schön, anziehend, verliebt, selbstbewusst, bestimmend, verspricht ihm Unsterblichkeit, wenn er bei ihr bleibt.

Die erste Frau hört auf zu zählen und erwidert:

– SIE mit dem Federschmuck am Hals. Kette. Katze

Die zweite Frau:

– ER Vogel – die Schlange, die ihn umschlingt. Schwert

– SCHHHHHHHHHHHHHHH! Grande histoire!

 

SCHNITT

7 – Halbnahe Aufnahme von beiden Frauen zusammen mit Odysseus und Kalypso

Erste Frau: Odysseus und Kalypso, 1943

Zweite Frau: Großes Liebespaar mit Schlange, so war der Titel zuerst. Das sollte Beckmann selber sein mit seiner geliebten Naïla, der größten Leidenschaft seines Lebens.

Seit 1937 lebt er im Exil und sehnt sich nach Deutschland.

Erste Frau: Amour Amour, woher weißt Du das?

Zweite Frau: Hab’s grade im Katalog gelesen.

 

SCHNITT

8 – Totale

Beide Frauen mit dem Rücken zu uns vor dem Bild. Die zweite Frau trägt einen langen weiten Pullover mit Rollkragen, petrolblau mit schwarzen vertikalen Linien aus Kaschmir. Dazu bis über die Knie einen smaragdgrünen Faltenrock aus Wolle mit chromgelben horizontalen Linien. Sie trägt wollene petrolblaue Kniestrümpfe und leichte braune Wanderschuhe. Ihr fülliges braunes Haar fällt in einem Pferdeschwanz locker gebunden bis zum unteren Rücken. Die Farbe und die Länge des Haares erinnern an die Schlange und an das Katzenfell, die petrolblauen Strümpfe an Odysseus’ Beinschienen und das Smaragdgrün an die Farbe der Kakadufedern.

Beide Frauen sind gleich groß und gleich alt. Plötzlich umarmt die zweite Frau die erste Frau mit ihrem Arm, gibt ihr einen riesigen Kuss auf die Wange und sagt:

– Na komm, ich hab' Durst.

Die erste Frau spielt mit ihrer langen Gliederkette aus Zelluloid in Schwarzweiß. Sie gehen nach rechts aus dem Bild. Man hört ihre Schritte, die sich entfernen.

Musik: Der Swing Jazz setzt dort wieder ein, wo er im Vorspann aufgehört hatte.

 

Titel: THE END

Grüne Schrift auf Schwarz

Nachspann

 

Nathalie David, geboren in Frankreich, lebt seit 1989 in Hamburg. Sie studierte freie Kunst an der Villa Arson in Nizza und an der HfBK in Hamburg bei Sigmar Polke und Katharina Sieverding mit anschließendem Zusatzstudium am Institut des Hautes Études von Ponthus Hultén in Paris und an der HfBK in Visueller Kommunikation. 1992 erhielt sie das Hamburg-Stipendium, das FIACRE Stipendium, Paris, und 2003 ein einjähriges Stipendium an der HFF Potsdam-Babelsberg bei Helke Misselwitz. Sie sieht den dokumentarischen Blick als Genre und als spezifischen Kunstprozess.

 

Hier geht es zum ersten Teil der Reihe "Wortwechsel".

Hier geht es zum zweiten Teil der Reihe "Wortwechsel".

Hier geht es zum dritten Teil der Reihe "Wortwechsel".
Beckmann_Odysseus und Kalypso_HK-2887_neue HP
Max Beckmann, „Odysseus und Kalypso“, 1943, Öl auf Leinwand, © Hamburger Kunsthalle / bpk, Foto: Elke Walford, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020