Jean-Baptiste Regnault, Freiheit oder Tod (La Liberté ou la Mort), 1794/95, © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Elke Walford (Ausschnitt)
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Freiheit for Future

Liberté ou la Mort war der radikale kleine Bruder von Liberté, Égalité, Fraternité, dem großen, bis heute gültigen Motto der Revolution und der französischen Republik. Der Aufruf »Freiheit oder Tod« war ein Fanal gegen Unterdrückung, Ungerechtigkeit und staatliche Repression. Nicht umsonst hing die großformatige Erstfassung von Jean-Baptiste Regnaults gleichnamigem Gemälde aus der Sammlung der Hamburger Kunsthalle zeitweilig im Sitzungssaal des »Rates der Fünfhundert« im Palais Bourbon, einer der beiden Kammern des revolutionären Parlaments. Mit dem Satz gemeint war nicht die Wahl zwischen dem einen und dem anderen, sondern dass man, um das eine zu erlangen, das andere in Kauf nehmen müsse. Allen sollte klar sein, dass Freiheit eine Sache auf Leben und Tod war. Ist sie das noch?

Drei Freiheiten beherrschen heute wieder regelmäßig die Schlagzeilen: die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit und die Kunstfreiheit. Um sie wird gegenwärtig heftig gerungen, um sie drehen sich die Debatten um das, »was man doch mal sagen dürfen wird«, um das, was man im Internet anonym von sich geben kann, und um das, was man in einem Museum, einem Kunstverein oder einer Kunsthalle präsentieren darf. Dabei verlaufen die Fronten heute kreuz und quer: Unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit wird wieder versucht zu behaupten, was seit dem Unrecht der Nationalsozialisten zu Recht als unsagbar angesehen wurde. Freiheit ist heute für manche das, was man sich nimmt, um andere herabzuwürdigen, zu beleidigen oder zu bedrohen. Die Freiheit, anderen den Tod zu wünschen, ist eine aktuelle Spielart des Fanals der Revolution.

Betrachtet man den Satz aus der gesellschaftlichen Perspektive, dann sind die beiden Begriffe Freiheit und Tod heute erneut, aber anders als 1789 miteinander verknüpft: Es ist jetzt des Menschen Freiheit, die direkt mit dem Tod vieler unserer Mitspezies auf dem Globus verknüpft ist: Unsere Freiheit, ohne Maß und Respekt Fleisch zu essen, führt zum täglichen millionenfachen Tod von Schweinen, Rindern, Lämmern und Hühnern, um nur ein paar der von uns der Schlachtung zugeführten Lebewesen zu nennen. Unsere Freiheit, zu reisen, lässt die Erde sich erwärmen; unsere Freiheit, uns individuell zu bewegen, hat mit der Autoindustrie einen der ressourcenfressendsten Wirtschaftszweige der Weltgeschichte hervorgebracht; unsere Freiheit, uns auszubreiten, löscht überall auf der Welt Lebensräume der anderen Planetenbewohner aus, und unsere Freiheit, zu konsumieren, zerstört unseren eigenen Lebensraum.

»Freiheit oder Tod« ist heute erneut nicht die Wahl zwischen dem einen und dem anderen; beides ist, wie Jean-Baptiste Regnault es gemalt hat, miteinander verbunden: Wenn wir uns weiter die Freiheiten nehmen, wie wir es gerade tun, dann sitzt der Tod bereits lächelnd im Bild. Es ist kein Zufall, dass zurzeit das Walross »Antje« im ersten Obergeschoss der Galerie der Gegenwart in einer Ausstellung über gegenwärtige Malerei thront. Stellvertretend für den Rest unserer Mitlebewesen hat sie das Kunstmuseum aufgesucht, um bildlich zu machen, dass unser Lebensstil und damit die Freiheit, die wir uns überall herausnehmen, der Tod anderer ist. Man muss keine Fridays for Future-Aktivistin sein, um zu erkennen, was nicht mehr geht: die Freiheit anderer zu beschneiden um der eigenen Freiheit willen.

ALEXANDER KLAR ist seit August 2019 Direktor der Hamburger Kunsthalle.