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Ernst Wilhelm Nay – Gesprächsreihe: 1. Teil: Interview mit Magdalene Claesges

Am 24. März 2022 eröffnet die Hamburger Kunsthalle ihre große Sommerausstellung »Ernst Wilhelm Nay. Retrospektive« mit über 100 Werken des Künstlers, Ölgemälden, Aquarellen und Zeichnungen aus allen Schaffensphasen (25. März bis 7. August 2022). In zweiter und dritter Station wird sie im Museum Wiesbaden und dem MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, zu sehen sein. Als kleinen Vorgeschmack auf die Schau führt Anna Ganzleben, die derzeit die Kuratorin Dr. Karin Schick und die wissenschaftliche Mitarbeiterin Sophia Colditz unterstützt, in den kommenden Wochen drei Interviews mit Personen, die in unterschiedlicher Weise zum Gelingen der Ausstellung beitragen. Heute spricht sie mit Dr. Magdalene Claesges, von der Ernst Wilhelm Nay Stiftung in Köln.

AG: Für Sie als Kunsthistorikerin stellt Ernst Wilhelm Nay seit langem den Forschungsschwerpunkt dar. Die Ernst Wilhelm Nay Stiftung, die das Werk des Künstlers fördert und auch dessen Nachlass betreut, ist in Nays ehemaligem Atelierhaus in Köln ansässig. Wie arbeitet es sich in so einem historisch bedeutsamen Setting?

MC: Prinzipiell ist es eine sehr schöne und besondere Arbeitsumgebung, weil das ehemalige Atelier- und Wohnhaus, das 1959 erbaut wurde, nicht nur die Kunst von Nay beziehungsweise seinen Nachlass beherbergt, sondern auch ihren Geist und Zeitgeist ‚atmet‘. Es berührt mich auch nach mehr als zwanzig Jahren noch, wenn ich morgens an meinen Arbeitsplatz komme – dieser befindet sich im ersten Stock des Hauses direkt in Nays ehemaligem Atelier – und dort nicht nur seine Bilder wahrnehme, sondern auch unter anderem die originalen Glastische, auf denen er gemalt oder gezeichnet hat, und die bis heute noch vorhandenen Farbspritzer auf dem Fußboden. Alles in allem ist es ein Privileg, in so einer Atmosphäre zu arbeiten.

AG: Was genau umfasst Ihre Tätigkeit für die Stiftung, mit welchen Partnern und Institutionen arbeiten Sie zusammen?

MC: Meine Tätigkeit für die Stiftung war von Beginn an durchaus vielseitig. Bis 2018 stand die wissenschaftliche Bearbeitung des Werkverzeichnisses der Papierarbeiten von Nay im Vordergrund. Als weiteres wichtiges Projekt folgte darauf die Neugestaltung der Website der Stiftung, wie auch die Aktualisierung des Online-Werkverzeichnisses (Gemälde und Werke auf Papier), die dauerhaft fortgesetzt wird. Dazu kommen in letzter Zeit verstärkt auch administrative Aufgaben und natürlich nach wie vor die ‚klassischen‘ Archivaufgaben, wie Pflege des Bestandes, Inventur etc.

Partnerinnen und Partner sind für uns natürlich die Galerien, mit denen wir zusammenarbeiten, aber auch die unterschiedlichen Ausstellungsinstitute beziehungsweise Museen im In- und Ausland, die wir regelmäßig und gern bei ihren Ausstellungs- und Publikationsprojekten unterstützen.

AG: Die Stiftung hat in der Vergangenheit wichtige Publikationen zu Ernst Wilhelm Nay herausgegeben, aber auch zahlreiche Projekte externer Forscherinnen und Forscher unterstützt. Hat sich das wissenschaftliche Interesse an dem Maler über die Zeit hinweg verändert, was beobachten Sie?

Tatsächlich ist das Interesse an Nay in den letzten Jahren gestiegen, wenn man auch sagen muss, dass hier sicher noch ‚Luft nach oben‘ ist. Die Stiftung fördert das gerade bei den jüngeren Kunsthistorikerinnen und Kunsthistorikern wachsende Interesse unter anderem durch zwei geplante Promotionsstipendien; wir konnten aber auch den renommierten Nay-Kenner Siegfried Gohr dafür gewinnen, eine neue umfassende Monographie zu Nay zu schreiben, die parallel zu der bevorstehenden Retrospektive noch in diesem Jahr erscheinen wird.

AG: Als Studentin der Kunstgeschichte sind mir Nay und andere Kunstschaffende seiner Zeit selten in universitären Veranstaltungen begegnet. Immer mehr wird die Kunst der 1930er bis 1950er Jahre in der Lehre übergangen. Woran könnte das Ihrer Meinung nach liegen?

MC: Bekanntermaßen ist dies ein Zeitraum, in dem die Bedingungen für freies künstlerisches Schaffen denkbar schlecht waren; vor allem natürlich in Deutschland unter dem Regime der Nationalsozialisten. Gleichwohl wissen wir, dass zahlreiche Künstler – so auch Nay – trotz der zum Teil existenziell gefährlichen Situation, in der sie sich befanden, weiter künstlerisch tätig waren.

Zusätzlich nehmen sowohl die Kunstströmungen bis 1930, zum Beispiel der Expressionismus oder die Neue Sachlichkeit, sowie jene ab 1960, wie FLUXUS, viel Raum in der akademischen Lehre ein. Die Kunst der Kriegsjahre und der unmittelbaren Nachkriegszeit rückt demgegenüber eher in den Hintergrund, was sicher auch der im Vergleich deutlich schlechteren Quellenlage für diesen Zeitraum geschuldet ist. Dennoch ist dieser in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus gerückt, so dass hier zahlreiche neue Forschungsergebnisse zu erwarten sind, die dann hoffentlich auch den Weg zu den Studierenden an den Hochschulen finden werden.

AG: Ziel der Retrospektive in Hamburg ist es, Ernst Wilhelm Nay und sein facettenreiches Werk wieder erfahrbar zu machen und es aus heutiger Perspektive zu betrachten. Welche neuen Aspekte fallen Ihnen da besonders auf? Was könnte gerade jüngere Besucherinnen und Besucher interessieren?

Ein besonderer Aspekt ist meines Erachtens,  dass diese Retrospektive maßgeblich dazu beitragen wird, den Blick auf Nays Œuvre noch einmal zu weiten und die immer noch vorherrschende Fokussierung auf seine berühmten ‚Scheibenbilder‘ nach verschiedenen Seiten aufzubrechen – und dies nicht nur in Richtung ‚Spätwerk‘, das schon seit einer Weile gerade von den Jüngeren als interessant und absolut ‚modern‘ empfunden wird, sondern auch im Hinblick auf Aspekte etwa seines ‚Frühwerks‘ oder auch seines Schaffens in Frankreich während des Krieges. Die herausragenden wissenschaftlichen Beiträge im begleitenden Katalog der Ausstellung sind der beste Beleg dafür, dass noch lange nicht alle Facetten von Nays Schaffen aufgespürt und für die Betrachtenden entdeckt sind.

Dr. Magdalene Claesges ist wissenschaftliche Leiterin und Archivleiterin der Ernst Wilhelm Nay Stiftung in Köln. Sie befasst sich seit langem mit dem Werk Nays: In ihrer Dissertation »Die Geburt des elementaren Bildes aus dem Geist der Abstraktion« (2001) setzte sie sich mit den theoretischen Schriften des Malers auseinander. Zwischen 2012 und 2018 gab sie für die Ernst Wilhelm Nay Stiftung das dreibändige Werkverzeichnis der Aquarelle, Gouachen und Zeichnungen heraus; im Jahr 2002 veröffentlichte sie mit Elisabeth Nay-Scheibler das »E. W. Nay. Lesebuch« mit ausgewählten Schriften Nays aus den Jahren 1931 bis 1968.


Magdalene Claesges vor Ernst Wilhelm Nay, Tag und Nacht, 1964, im Depot der Ernst Wilhelm Nay Stiftung