Wassily Kandinsky, Weißer Punkt (Komposition 248), 1923, © SHK / Hamburger Kunsthalle / bpk, Foto: Christoph Irrgang
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Playing Kandinsky

Schimmernd blau ist die dreidimensionale Form, ihre Oberfläche erinnert an eine glasierte Keramikschale. Sie schwebt im virtuellen Raum, unmittelbar vor Konstantina Orlandatou. Mit zwei Steuerelementen in ihren Händen greift sie vorsichtig nach der Halbkugel und zieht diese an sich. Dabei entwickelt sich ein dunkler Klang, der immer mehr an Volumen gewinnt. Auch andere Elemente des Gemäldes Weißer Punkt bringt Konstantina Orlandatou durch ihre Bewegungen im virtuellen Raum zum Klingen, sie lässt Noten auf Notenlinien ertönen und kleine Quadrate oder spitze, transparente Bildelemente durch den virtuellen Raum wirbeln. Sie erzeugt so ihre individuelle Komposition des Kunstwerks aus dem Jahr 1923, das Kandinsky auch als Komposition 248 bezeichnete – zahlreiche andere Versionen davon sind möglich.
Konstantina Orlandatou von der Hochschule für Musik und Theater Hamburg ist der Kopf hinter der Virtual-Reality-Installation von Kandinskys Gemälde, die seit Anfang April in der Hamburger Kunsthalle in einem Kabinett der Klassischen Moderne zu erleben ist. Als Leiterin des Projekts Moving Sound Pictures kam sie auf die Kunsthalle zu mit der Idee, den Zusammenhang von bildender Kunst und Musik am Beispiel eines Werks aus der Sammlung erlebbar zu machen. 
Konzeptionell, in der Absicht des Künstlers Wassily Kandinsky, trägt das Gemälde Weißer Punkt (Komposition 248) von 1923 genau diese Verbindung von visueller und akustischer Sphäre in sich. In ihm überlagern sich Zickzacklinien, Dreiecke und Quadrate. Flächen sind im Raum gestaffelt und mit weiteren Elementen verschachtelt. Die komplexe Zusammenstellung könnte verwirren, wirkt als Gesamtkomposition aber vollkommen stimmig. Dieses Werk in einem Museumsraum zum Klingen zu bringen, wäre ein faszinierendes Experiment, das stand für die Kunsthalle schnell fest. Denn Kandinsky war nicht nur Maler, er verstand sich auch als »Synästhetiker«. Für ihn waren Seh- und Hörsinn miteinander verbunden; er meinte, Farben hören und Töne sehen zu können.
In seiner Kunsttheorie verknüpfte Kandinsky immer wieder Farben und Formen mit Klängen. Konstantina Orlandatou ließ sich von seinen Überlegungen inspirieren, interpretierte sie als Komponistin aber auch neu und nutzte den Freiraum, den seine Beschreibungen zulassen. Sie isolierte Elemente des Gemäldes, ordnete sie im Raum an und wies ihnen bestimmte Tonalitäten zu. Im virtuellen Raum können sich Besucher*innen nun buchstäblich Elemente aus dem Werk herausgreifen, sie zum Klingen bringen und so ihre eigene akustische Umsetzung der visuellen Komposition erleben. Angereichert durch diese Erfahrung, wird sich auch der Blick auf das originale Gemälde im benachbarten Kabinett verändern. Darin sind sich alle Projektbeteiligten einig: Virtualität und Realität greifen hier ideal ineinander und er gänzen sich – eine vireale Form der Kunstvermittlung.
Die Welt draußen entweder distanziert durch eine Fensterscheibe wahrnehmen oder durch die Tür unmittelbar ins Leben treten – diese beiden Haltungen beschrieb Kandinsky in seinem bekannten Buch Punkt und Linie zur Fläche aus dem Jahr 1926 und erläuterte dann mit Blick auf das Kunstwerk: »Auch hier ist die Möglichkeit vorhanden, in das Werk zu treten, in ihm aktiv zu werden und seine Pulsierung mit allen Sinnen zu erleben.« In unserer digitalen Welt ermöglicht die Installation nun auf buchstäbliche Weise genau dies: Probieren Sie es aus!

Katharina Hoins und Karin Schick


SEE, HEAR, PLAY KANDINSKY! Mit der virtuellen Realität in das Gemälde Weißer Punkt, bis 24. Juli 2022 in der Lichtwark-Galerie, Klassische Moderne (in der Regel von 11 bis 13 und von 14 bis 17 Uhr begleitet nutzbar)

Projektteam: Hochschule für Musik und Theater Hamburg: 
Konstantina Orlandatou (Projektleiterin Moving Sound Pictures), Christine Preuschl (Leitung Transferbüro);

Hamburger Kunsthalle: Anja Gebauer (Wissenschaftliche Mitarbeiterin für digitale Vermittlung), Katharina Hoins (Referentin des Direktors), Karin Schick (Sammlungsleiterin - Klassische Moderne), Andrea Weniger (Leiterin Bildung & Vermittlung) 

Projekt Moving Sound Pictures gefördert durch:
Bundesministerium für Bildung und Forschung
Innovative Hochschule
Gemeinsame Wissenskonferenz

Projekt an der Hamburger Kunsthalle gefördert durch: 
Behörde für Kultur und Medien, Freie und Hansestadt 
Hamburg, Innovationsoffensive Hamburger Museen